Der händchenhaltende Winnetou
1919 kam in München erstmals ›Winnetou‹ auf die Bühne
Stirnband, heller Jagdrock, bunte Perlenstickereien – das ist spätestens seit den Karl-May-Filmen der Sechzigerjahre das gängige Winnetou-Outfit auf fast allen Freilichtbühnen. Nun aufgetauchte Fotos zur frühesten ›Winnetou‹-Inszenierung am Deutschen Theater in München aus dem Jahr 1919 belegen: Vor fast hundert Jahren trug der Apache Dutt, Schminke und ein armfreies Oberteil. Und hielt Händchen mit Old Shatterhand. Wie war er, der bayrische Winnetou der Zehnerjahre?
Links: Adolf Hille als Old Shatterhand in der ›Winnetou‹-Inszenierung des Deutschen Theaters München von 1919. Für das Foto hat er sich von Intschu-tschuna die Silberbüchse ausgeliehen. Rechts: Die Blutsbrüder kommen sich näher (Maximilian Herbst als Winnetou).
Das Stück ›Winnetou‹ am Deutschen Theater München im November 1919 gilt als die früheste Winnetou-Inszenierung überhaupt. Sieben Jahre nach Karl Mays Tod und ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs brachte der Regisseur Alfred Lommatzsch Winnetou, Old Shatterhand, Nscho-tschi & Co. erstmals in einer Karl-May-Inszenierung auf die Bühne. Das Textbuch schrieb Hermann Dimmler, dessen Adaption des ersten Winnetou-Bandes mit Elementen aus ›Winnetou III‹ noch 1928 am Renaissance-Theater in Wien Verwendung fand und den dortigen Regisseur Ludwig Körner zu einer eigenen Fassung veranlasste, die auf Dimmler aufbaute und auch 1929 bei der ersten Berliner Aufführung in Viktor Barnowskys Theater an der Königgrätzer Straße mit Hans Otto in der Titelrolle¹, 1938 an der Berliner Volksbühne mit Will Quadflieg als Winnetou² und im selben Jahr auf der Felsenbühne Rathen aufgeführt wurde.
»Gruss aus München!«: Das Deutsche Theater von außen und innen auf zwei zeitgenössischen Postkarten (ca. Jahrhundertwende). Das am 26. September 1896 eröffnete Theater in der zentral gelegenen Schwanthalerstraße 13 existiert noch heute.
Als Peter Krauskopf 1989 die frühen May-Bühnentexte unter die Lupe nahm, fiel ihm Dimmlers ›Winnetou‹-Fassung als eher harmlos auf:
Im Gegensatz zu den action-betonten Inszenierungen von heute läßt Dimmler immer dann, wenn es brenzlig wird, gnädig den Vorhang sinken. […] Ob Dimmler, der bei der Niederschrift seines Textes auch an die Produktionsmöglichkeiten kleinerer Bühnen gedacht hatte, den Schauspielern keine artistischen Leistungen abverlangen wollte oder einfach nur seine Helden nicht mit körperlichen Aktionen beschmutzen wollte, sei dahingestellt. Typisch für die deutsche Unterhaltungskunst bis weit in die sechziger Jahre hinein ist die Negation des Physischen allemal.³Übersetzt heißt das: Winnetou fand ohne Action statt.
Winnetou ohne Action? Das ist selbst für die frühen Freilichtbühnenstücke in Rathen, Ratingen, Bad Segeberg und Elspe unvorstellbar. Doch mit vorschnellen Schlüssen, die die ›Winnetou‹-Inszenierung von München 1919 als aktionsarm bezeichnen, sollte man vorsichtig sein. Denn Krauskopf hatte für seine Analyse Dimmlers erst 1929 im Radebeuler Karl-May-Verlag erschienene Textbuchfassung gelesen⁴, verständlicherweise aber nicht die Münchner Inszenierung miterlebt (Krauskopf ist Jahrgang 1955). Offenbar lagen Krauskopf auch kaum Informationen zu ihrer Wirkung vor.
Jemand, der im Deutschen Theater mit eigenen Augen dabei war, ist »L. S.«, Autor des ›Neuen Münchener Tagblatts‹. Der vollständige Name des Theaterkritikers ist nicht bekannt, aus seiner am 12. November 1919 erschienenen Rezension⁵ des Winnetou-Stücks zitierte Hansotto Hatzig im ›Karl-May-Handbuch‹⁶, worauf sich auch Krauskopf bezog. Für den vorliegenden Beitrag in ›KARL MAY & Co.‹ besorgte Wolfgang Sämmer eine Kopie der zeitgenössischen Besprechung, die wir somit erstmals vollständig reproduzieren können.
Hermann Dimmlers ›Winnetou‹-Bühnenfassung, die 1919 in München erstmals aufgeführt wurde, erschien zehn Jahre später im Radebeuler Karl-May-Verlag. Hier der Buchdeckel und Seite 40 mit einem Szenenauszug aus Dimmlers Stück mit Winnetou, Old Shatterhand und Nscho-tschi.
Warum ist in Sachen actionarmer Winnetou Vorsicht geboten? »L. S.« schreibt nach seinem Besuch der Winnetou-Premiere am Samstag, 8. November 1919:
Daß natürlich unheimlich viel gekämpft und geschossen wird – Gott, das ist halt in den Mayschen blutigen Gründen so und der jungen und alten Maygemeinde war es sicherlich nicht zu viel.
»Unheimlich viel gekämpft und geschossen« heißt es hier, Krauskopf macht im Textbuch hingegen Aktionsarmut (»Negation des Physischen«) aus – wie passt das zusammen?
»L. S.« weiter:
Gespielt wurde von den Hauptdarstellern trefflich, [Maximilian] Herbst als Titelheld und [Adolf] Hille als sein Blutsbruder vermieden die naheliegende Gefahr, in Krafthuberei zu verfallen und gaben schlicht und recht ihre Westmen.
Der Berliner May-Sammler Hartmut Schmidt entdeckte im vergangenen Jahr drei Fotografien, die das Münchner Blutsbrüderpaar sowie Nscho-tschi-Darstellerin Falken (Vorname unbekannt) zeigen und vom Fotostudio »Peiser« (Neuhauserstraße 23 – eine zentrale Adresse in München, unweit von Frauenkirche, Marienplatz und Stachus) angefertigt wurden. Die Fotografien, die Schmidt freundlicherweise zur Verfügung stellte, muten aus heutiger Sicht skurril an: Sie zeigen einen Winnetou mit Dutt, dick aufgetragener Schminke und armfreiem Oberteil. Winnetou/Herbst und Shatterhand/Hille halten Händchen und blicken sich verliebt in die Augen, als wollten sie zum ersten Kuss ansetzen. Abahachi und Arno Schmidt lassen grüßen. Trotz des Austauschs von Zärtlichkeiten guckt Winnetou ziemlich grimmig, zudem präsentiert er uns den Ansatz eines Doppelkinns wie eine nicht zu übersehende, wenig dekorative Nase.
Der Rezensent der Münchner Lokalpresse stellt der Inszenierung von Alfred Lommatzsch nach Dimmlers Textbuch ein positives Zeugnis aus:
Der Versuch ist als geglückt anzusprechen, namentlich wenn all das kleine Volk, das da am Samstag mit glänzenden Wangen und funkelnden Augen das Haus bis zum letzten Platz füllte, als Richter in Betracht kommt. Die Szenen sind geschickt ausgeschnitten, auch leidlich gut verbunden, bis auf den Schluß, wo es etwas im Tempo des Feuerrosses geht.
Auf die Premiere im Deutschen Theater am 8. November 1919 folgten weitere Vorstellungen am 12. und 15. November, »nachmittags 3 Uhr«.
Das Münchner May-Stück gilt als früheste ›Winnetou‹-Inszenierung, so ist es auch nicht verwunderlich, wenn Berndt Banach 1988 in der Festschrift anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Karl-May-Verlags schreibt: »Die ersten Darsteller der beiden heroischen Blutsbrüder waren Maximilian Herbst und Adolf Hille«⁷. Die Rezension des 1919er ›Winnetou‹-Stücks aus dem ›Neuen Münchner Tagblatt‹ deutet jedoch darauf hin, dass Banach sich hier teilweise irrt. So ist anzunehmen, dass Herbsts Winnetou am Deutschen Theater nicht der erste Bühnenauftritt des May-Apachen war, es vielmehr bereits zuvor zu einer Winnetou-Präsenz auf einer Münchener Bühne gekommen war. So habe es laut »L. S.« bereits »vor Jahren« den Versuch eines Münchener Autorenpaars gegeben, Winnetou in der »parodistischen Operette ›Fräulein Rothaut‹ auf die Bühne zu bringen«. Der Versuch sei seinerzeit misslungen, weil der Autor (»Ludl«) dem Häuptling »seine groteske Komik« geliehen habe. Eine frühe Bühnenfassung à la ›Der Schuh des Manitu‹ also? Das herauszufinden, liegt noch vor uns.
Anmerkungen
¹ Vgl. Hartmut Schmidt, ›Winnetou in Berlin I‹, in: ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹, Nr. 88, Juni 1991, S. 26–31; ders., ›Winnetou auf der Bühne‹, in: ›KARL MAY & Co.‹, Rundbrief Nr. 79, März 2000; S. 44–47.
² Vgl. Hartmut Schmidt, ›Winnetou in Berlin, Teil 2‹, in: ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹ Nr. 89, September 1991, S. 19–23.
³ Peter Krauskopf, ›Pferde, Action, Explosionen«. Winnetou auf der Bühne‹, in: Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hg.), ›Karl Mays ›Winnetou‹. Studien zu einem Mythos‹, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1989; S. 430–446; hier: S. 435. Aktualisiert in: Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hg.), ›Karl Mays »Winnetou«›, Oldenburg, Igel 2007, S. 369–387.
⁴ H[ermann] Dimmler, ›Winnetou. Reiseerzählung von Karl May. Für die Bühne gestaltet‹, Radebeul bei Dresden, Karl-May-Verlag 1928 [recte 1929]; s.a.: Wolfgang Hermesmeier/Stefan Schmatz, ›Karl-May-Bibliografie 1913–1945‹, Bamberg, Radebeul, Karl-May-Verlag 2000, S. 499.
⁵ L. S., ›Winnetou im Deutschen Theater‹, in: ›Neues Münchener Tagblatt‹, Nr. 317, München, 12.11.1919, S. 6.
⁶ Hansotto Hatzig, ›E. Dramatisierungen‹, in: Gert Ueding/Reinhard Tschapke (Hg.), ›Karl-May-Handbuch‹, Stuttgart, Alfred Kröner 1987, S. 651–655; aktualisiert in: Gert Ueding/Klaus Rettner (Hg.), dass., 2. erweiterte u. bearbeitete Auflage, Würzburg, Königshausen & Neumann 2001, S. 523–526.
⁷ Berndt Banach, ›Karl May zum Anschauen‹, in: Roland Schmid (Hg.), ›75 Jahre Verlagsarbeit für Karl May und sein Werk 1913–198‹, Bamberg, Karl-May-Verlag 1988, S. 161–172.